Scheidle schreibt: Orte in Island: Ambiente Spezial

Ö1, 12.12. 2022 Ambiente Reisemagazin um 10 Uhr 05

bei der Kamerafrau Brigit Gudjonsdottir zu Besuch, am Fuße des Snaefellsjökull in Island

Es war im Jahr 2020, als ich mich nach Island aufmachte, um für ein Filmprojekt zu recherchieren und für das Ö1 Reisemagazin „Ambiente“ Geschichten aus Island mitzunehmen. Ich besuchte damals die isländisch- österreichische Fotografin und Kamerafrau Birgit Guðjónsdóttir auf der Halbinsel Snæfellsnes, die in der Nähe des winzigen Fischerdorfs Hellnar gerade ihr Haus und ein Künstleratelier zu bauen begonnen hatte.

Wir stiegen damals über das Baugerüst in den ersten Stock, der – noch ohne Dach und Mauern – wie eine große Aussichtsplattform einen 360-Grad-Blick über den Atlantischen Ozean bis zum sagenumwobenen Vulkan Snæfellsjökull ermöglichte.

Bau braucht Weile

Vor einigen Tagen habe ich bei Birgit nachgefragt, wie es denn um Haus und Atelier stehe. Müsste beides nicht schon längst fertig sein? Als Antwort kamen zwei Fotos auf WhatsApp, die mir das Ensemble zeigten, mit Birgits Konterfei im Vordergrund und der lakonischen Nachricht: „Dauert alles länger als gedacht.“

Die Fenster sind zum Teil noch mit Folie zugeklebt, das Gerüst ist noch immer nicht ganz verschwunden, Birgits Traum, einen Ort in Island für sich und ihre Familie, Freund:innen und Künstler:innen zu finden, hat jedoch ordentlich an Gestalt gewonnen. Auf den Grashügeln erheben sich jetzt die zwei Häuser im selben Weißblau wie der Gletscher hinter ihnen, so als ob sie schon immer da gestanden wären und genau dort hingehören würden.

Mit dem Literaturprofessor nach Hafnarfjörður

So karg Islands Boden scheint oder auch ist, so reichhaltig ist Islands literarische Tradition, und mir scheint, die Insel und ihre Bewohner:innen öffnen sich ihren Besucher:innen vor allem in Erzählungen und Geschichten. Was es mit den Elfen und Trollen auf sich hat und wie die Isländer:innen zu dieser inselspezifischen Eigenheit stehen, wollte ich besser verstehen. Der Übersetzer für Isländisch und Deutsch und Professor für isländische Literatur sowie Reiseleiter Jón Atlason führte mich an einen Ort, der in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zwischen Großindustrie und unberührter Natur steht: Hafnarfjörður an der Küste der Halbinsel Reykjanes.

Die Stadt verfügt über einen der größten Umschlaghäfen des Landes. Nur wenige Kilometer entfernt befinden sich riesige Aluminiumschmelzhütten sowie der Krater Brúfell und ein vor 7.000 Jahren entstandenes Lavafeld, das Heimat des unsichtbaren Volkes, zahlloser Elfen, Gnome, Zwerge und Feen, sein soll. Jón gab bei unserem Spaziergang durch den kleinen Park Hellisgerði am Rand von Hafnarfjörður einen Einblick in die isländischen Ursprungsmythen und stellte Zusammenhänge zwischen historischen Naturkatastrophen und Elfenglaub her.

Mit dem Gärtner in Reykjavík

15 Kilometer weiter liegt Islands Hauptstadt, Reykjavík. Dort habe ich Heimir Janusarson getroffen, den Chefgärtner des historischen Friedhofs Hólavallagardur, um meine Recherchen voranzutreiben und ins Zentrum isländischer Geschichte vorzudringen. Das 3.000 Quadratmeter große Kleinod liegt auf einem Hügel, beherbergt neben seinen Toten seltene Pflanzen, Bäume und Tiere – und ist Fundgrube isländischer Geschichte und Geschichten. Für Heimir selbst ist der Friedhof aber vor allem ein Ort für die Lebenden.

Weite Teile Islands sind unbewohnt, seine vulkanische Aktivität lässt sich nicht erschließen oder zähmen. Umso mehr scheint meinen Interviewpartner: innen ihr starker Bezug zur Landschaft, ihre Auseinandersetzung mit der Natur, ihrer Gnadenlosigkeit wie ihren Möglichkeiten gemein und ihre Suche nach einem Platz, einem Ort, um zu Hause zu sein.