SCHREIBT. „Meine Arbeit ist die Sprache“ Autorinnenportrait Anita Pichler (1948–1997) in der Alten Schmiede, gemeinsam mit der Schriftstellerin Sabine Gruber und dem Autor Andreas Jungwirth, 12. Juni 2023 I Radiophone Werkstatt

SCHREIBT. Erinnerungen an die Südtiroler Schriftstellerin Anita Pichler

von Ursula Scheidle, Feature, Ö1-Reihe Tonspuren. ORF 2022 Ursula Scheidle im Gespräch

Andreas Jungwirth am 12. Juni 2023 in der Alten Schmiede um 19 Uhr 30


Anita Pichler (1948–1997) war eine der bedeutendsten Südtiroler Autorinnen der Nachkriegszeit. Als freie Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Italienischen ins Deutsche lebte sie zwischen Venedig, Wien, Berlin und Südtirol. Mit ihren poetisch-dichten, von historischen und mythologischen Stoffen durchzogenen Texten befasst sich der erste Teil des Abends, mit einem Radio-Feature zur Autorin der zweite.


Es ging Anita Pichler nicht um Freiheit von etwas, es ging ihr um Freiheit zu etwas, die Freiheit etwas zu gestalten, etwas neu zu denken, umzudenken, aus alten Ideologien auszubrechen. Ursula Scheidle interviewte die Autorin vor 25 Jahren zu ihren Erzählungen Die Frauen aus Fanis (1992). Ein Jahr später starb Anita Pichler. Gemeinsam mit dem Musiker Florian Kmet versucht die Feature-Autorin im Gespräch mit den Nachlassverwalterinnen Sabine Gruber und Renate Mumelter sowie der Mythenforscherin Ulrike Kindl den Reiz der zeitlosen Erzählungen Anita Pichlers zu ergründen.

Scheidle schreibt: Orte in Island: Ambiente Spezial

Ö1, 12.12. 2022 Ambiente Reisemagazin um 10 Uhr 05

bei der Kamerafrau Brigit Gudjonsdottir zu Besuch, am Fuße des Snaefellsjökull in Island

Es war im Jahr 2020, als ich mich nach Island aufmachte, um für ein Filmprojekt zu recherchieren und für das Ö1 Reisemagazin „Ambiente“ Geschichten aus Island mitzunehmen. Ich besuchte damals die isländisch- österreichische Fotografin und Kamerafrau Birgit Guðjónsdóttir auf der Halbinsel Snæfellsnes, die in der Nähe des winzigen Fischerdorfs Hellnar gerade ihr Haus und ein Künstleratelier zu bauen begonnen hatte.

Wir stiegen damals über das Baugerüst in den ersten Stock, der – noch ohne Dach und Mauern – wie eine große Aussichtsplattform einen 360-Grad-Blick über den Atlantischen Ozean bis zum sagenumwobenen Vulkan Snæfellsjökull ermöglichte.

Bau braucht Weile

Vor einigen Tagen habe ich bei Birgit nachgefragt, wie es denn um Haus und Atelier stehe. Müsste beides nicht schon längst fertig sein? Als Antwort kamen zwei Fotos auf WhatsApp, die mir das Ensemble zeigten, mit Birgits Konterfei im Vordergrund und der lakonischen Nachricht: „Dauert alles länger als gedacht.“

Die Fenster sind zum Teil noch mit Folie zugeklebt, das Gerüst ist noch immer nicht ganz verschwunden, Birgits Traum, einen Ort in Island für sich und ihre Familie, Freund:innen und Künstler:innen zu finden, hat jedoch ordentlich an Gestalt gewonnen. Auf den Grashügeln erheben sich jetzt die zwei Häuser im selben Weißblau wie der Gletscher hinter ihnen, so als ob sie schon immer da gestanden wären und genau dort hingehören würden.

Mit dem Literaturprofessor nach Hafnarfjörður

So karg Islands Boden scheint oder auch ist, so reichhaltig ist Islands literarische Tradition, und mir scheint, die Insel und ihre Bewohner:innen öffnen sich ihren Besucher:innen vor allem in Erzählungen und Geschichten. Was es mit den Elfen und Trollen auf sich hat und wie die Isländer:innen zu dieser inselspezifischen Eigenheit stehen, wollte ich besser verstehen. Der Übersetzer für Isländisch und Deutsch und Professor für isländische Literatur sowie Reiseleiter Jón Atlason führte mich an einen Ort, der in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zwischen Großindustrie und unberührter Natur steht: Hafnarfjörður an der Küste der Halbinsel Reykjanes.

Die Stadt verfügt über einen der größten Umschlaghäfen des Landes. Nur wenige Kilometer entfernt befinden sich riesige Aluminiumschmelzhütten sowie der Krater Brúfell und ein vor 7.000 Jahren entstandenes Lavafeld, das Heimat des unsichtbaren Volkes, zahlloser Elfen, Gnome, Zwerge und Feen, sein soll. Jón gab bei unserem Spaziergang durch den kleinen Park Hellisgerði am Rand von Hafnarfjörður einen Einblick in die isländischen Ursprungsmythen und stellte Zusammenhänge zwischen historischen Naturkatastrophen und Elfenglaub her.

Mit dem Gärtner in Reykjavík

15 Kilometer weiter liegt Islands Hauptstadt, Reykjavík. Dort habe ich Heimir Janusarson getroffen, den Chefgärtner des historischen Friedhofs Hólavallagardur, um meine Recherchen voranzutreiben und ins Zentrum isländischer Geschichte vorzudringen. Das 3.000 Quadratmeter große Kleinod liegt auf einem Hügel, beherbergt neben seinen Toten seltene Pflanzen, Bäume und Tiere – und ist Fundgrube isländischer Geschichte und Geschichten. Für Heimir selbst ist der Friedhof aber vor allem ein Ort für die Lebenden.

Weite Teile Islands sind unbewohnt, seine vulkanische Aktivität lässt sich nicht erschließen oder zähmen. Umso mehr scheint meinen Interviewpartner: innen ihr starker Bezug zur Landschaft, ihre Auseinandersetzung mit der Natur, ihrer Gnadenlosigkeit wie ihren Möglichkeiten gemein und ihre Suche nach einem Platz, einem Ort, um zu Hause zu sein.

Feature von Ursula Scheidle: Produktion im Wiener Funkhaus mit Blick aus dem Funkhaus

„Meine Arbeit ist die Sprache“
Erinnerungen an die Schriftstellerin Anita Pichler.
Feature von Ursula Scheidle.

„Ihr schmales Werk“ wird zum „Besten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ gezählt, ihre Sprache als „Prosa von irritierendem Reiz“ beschrieben. Anita Pichler, geboren 1948 in Meran, war die erste Südtiroler Schriftstellerin der Nachkriegszeit, die über die Grenzen des Landes hinaus bekannt wurde. Ihr Werk sorgte auch für Diskussionen. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bezeichnete ihren beim Bachmann-Wettbewerb vorgestellten Text als „Kunstgewerbe mit Talmi“, er erschien später unter dem Titel „Die Zaunreiterin“ beim Suhrkamp Verlag. In Anita Pichlers Texten ist eine intensive Auseinandersetzung mit Sprache zu bemerken. In ihrem Prosaband „Beider Augen Blick – Neun Variationen über das Sehen“ hat sich die Schriftstellerin mit dem, was „erzählbar ist“ auseinandergesetzt, in weiteren Werken mit historischen und mythologischen Stoffen aus ihrer Heimat Südtirol, die sie neu deutete, in moderne Literatur transferierte und ins Heute holte.

Ursula Scheidle hat die Schriftstellerin vor 25 Jahren in Brixen zu ihren damals im Haymon Verlag erschienenen Erzählungen „Die Frauen aus Fanis“ gemeinsam mit der Germanistin und Mythenforscherin Ulrike Kindl interviewt. Ein Jahr später starb Anita Pichler 1997 in Bozen an Krebs. Die Feature-Autorin konnte diese Begegnung sowie die zeitlosen Erzählungen über die rätselhaften Fürstinnen, geschaffen aus den Bruchstücken ladinischer Erzähltradition, nie vergessen. Während des ersten Corona-Lockdown hat sie gemeinsam mit dem Musiker Florian Kmet versucht, den Reiz der Texte in einem Hörstück zu ergründen. Sie hat dazu die Mythenforscherin Ulrike Kindl noch einmal in Brixen getroffen sowie die beiden Nachlassverwalterinnen, die Schriftstellerin Sabine Gruber und die Publizistin Renate Mumelter, um mehr über Anita Pichler und die Anziehungskraft, die ihr Werk auf sie ausübt, herauszufinden.

Ö1 Kunstsonntag: Tonspuren

Reisereportage: Stadt der Lava Hafnarfjördur in Island

Hafnarfjördur liegt auf der Halbinsel Reykjanes, 15 km entfernt von Reykjavík, in einer seismisch sehr aktiven Gegend und vereint die irrationale Seite Islands mit Aluminiumindustrie. Das malerische Städtchen bietet in Vertiefungen der schroffen Lava nicht nur Schutz für die bunten Häuser seiner sichtbaren Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch seiner unsichtbaren. Im Lavafeld, das vor 7.000 Jahren durch einen Ausdruck des 5 km entfernten Kraters Búrfell entstanden ist, soll es vor Elfen, Gnomen, Zwergen und Feen nur so wimmeln. Andererseits verfügt Hafnarfjördur über einen der größten Umschlaghäfen des Landes, um das Aluminium, das nur wenige Kilometer entfernt in riesigen, weniger anheimelnden Hallen produziert und weltweit verschifft wird.

Friedhofsgeschichten aus Reykjavík in Ö1/Ambiente

Recht zentral, in der Nähe des Stadtteichs und des Nationalmuseums, liegt auf einer Anhöhe der historische Friedhof von Reykjavík, Hólavallagarður. Sein ältestes Grab ist datiert mit dem Jahr 1838. Heute ist der Friedhof nicht nur ein Ort für die Toten, sondern, wie sein Chef-Gärtner Heimir Janusarson sagt, vor allem ein Ort für die Lebenden. Auf seinen ca. 3.000 Quadratmetern birgt er nicht nur kunstvolle Grabsteine aus Basalt mit dekorativen Bildern, sondern auch an die 200 Pflanzensorten und eine ungewöhnlich dichte Sammlung verschiedenartiger Bäume, importiert aus allen Erdteilen. So reichhaltig seine Fauna ist, so vielseitig sind die Geschichten, die der Gärtner Heimir Janusarson zu den einzelnen Gräbern und über die Aktivitäten, die der Friedhof für seine Stadtbewohner bereithält, erzählt.

 

 

Zuhause sein am Mittelpunkt der Erde

Die Halbinsel Snaefellsness im Westen Islands gilt als „Island im Kleinformat“ und ist eines der beliebtesten touristischen Ausflugsziele. Auf überschaubarem Raum wechseln sich hier steile Küsten, Fischerorte, Krater, malerische schwarze Sandstrände, Lavafelder und Weidelandschaft ab. Der dort befindliche Gletscher Snaefellsjökull gilt als mythischer Kraftberg und erlangte durch das Werk zweier Schriftsteller Weltruhm: Der französische Autor Jules Vernes wählt den Gletscher als Ort des Geschehens in seinem Roman „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ und der isländische Literaturnobelpreisträger Halldor Laxness beschreibt in seinem Werk „Am Gletscher“ die skurrile Seelsorge-Geschichte eines unorthodoxen Pfarrers und seiner Gemeinde. Nicht weit entfernt von Hellnar, einem winzigen Küstenort am Fuße des Snaefellsjökull, baut derzeit die Fotografin und Kamerafrau Birgit Gudjonsdottir* an der Steilküste ein Haus für ihre Familie und ein Atelier
Sie erfüllt sich damit ihren Kindheitstraum. Es soll ein Zuhause werden – nicht nur für sie selbst, die ihr Leben lang zwischen den beiden Welten Island und Österreich hin und herpendelt, sondern auch für Künstlerinnen und Künstler, die sich dort einmieten und ihre kreative Arbeit von den Kräften des Ortes beflügeln lassen sollen. Birgit Gudjonsdottir führt über die mit Moos bewachsenen Weiden bis zur Steilküste und durch ihr noch im Bau befindlichem Haus, von dem aus ein 360 Grad Blick auf Küste, Meer und Berg möglich wird und gewährt persönliche Einblicke in die isländische Kultur und Natur. Ursula Scheidle war bei Birgit Gudjonsdottir zu Gast.

*Birgit Gudjonsdottir wurde 1962 in Reykjavík geboren und wuchs in Island, Norwegen, Deutschland und Österreich auf. Sie ist als Dozentin tätig, Mitglied der Deutschen und der Europäischen Filmakademie und war Vorstandsmitglied des Europäischen Kameraverbands IMAGO. 2018 erhielt den Ehrenpreis des Deutschen Kamerapreises.